Gefangen

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Ninnah Levin wurde soeben mit dem Auspacken ihrer Reisetasche fertig. Zwar fasste die kleine Tasche nicht viel Inhalt, doch hat Ninnah dieses Wenige ganz langsam Teil für Teil, fast schon so, als ob sie diesen Vorgang feierlich zelebrierte, ausgepackt und in ihrer Passagierkabine verteilt. Sie gab sich alle Mühe, in diesem kleinen heruntergekommen Raum eine Gemütlichkeit zu schaffen - schließlich würde sie die nächsten zwei Wochen an Bord dieses Frachtschiffes verbringen. Sie verteilte die letzten Inhalte ihres Kulturbeutels in der winzigen schimmligen Nasszelle und sah sich nochmals um. Ja, so könnte man es hier einige Tage aushalten ohne den Verstand zu verlieren. Zufrieden mit dem Ergebnis, ließ sie sich mit einem Ruck auf das ausgezogene Wandbett fallen und bereute die Aktion sofort, als sie die Härte des Metallgestells, die durch die dünne Matratze kaum gemildert wurde, in ihrem Rücken spürte. Das kommt von deiner Überheblichkeit, schimpfte sie sich selbst und drehte sich auf der Suche nach einer bequemen Position auf die Seite. Sie schloss die Augen und ließ die letzten Stunden Revue passieren.
Eigentlich konnte sich es selbst noch gar nicht glauben. Endlich hatte sie es gewagt. Ein Schritt, der längst getan werden musste: sie verließ das wohl behütete Leben im Haus ihrer Eltern in einem Vorort von Capital City auf Eldonar und begab sich auf den Weg nach... Tja, wohin eigentlich? Soweit waren ihre Plänen noch nicht gereift. Erstmal ging es darum los zu lassen. Alles andere würde sich schon ergeben. Nach einem der sich in letzter Zeit häufenden Streits mit ihrem Vater, verschwand sie in ihrem Zimmer, packte ihre Sachen und schlich sich in der drauf folgenden Nacht aus dem Haus. Sie nahm ein AeroTaxi und fand sich in Ermangelungen weiterer Ideen am Aveco-Central-Starport wieder. Was sollte sie nun tun? Sie saß in der riesigen Wartehalle und wartete. Als sich die ersten Adrenalin benebelten Hochgefühle legten, und ihr Gehirn wieder zum rationalen Denken fähig war, blieb die erwünscht Antwort aus.
Vielleicht bin ich einfach nicht weit genug weg um frei denken zu können, schoss es ihr als einzig plausible Erklärung durch den Kopf. Vielleicht wäre eine größere Distanz hilfreich, wenn nicht sogar unumgänglich, um mir Gedanken über die Zukunft zu machen.
Da sie aber außer Eldonar nichts kannte und sich im Rahmen der Kurzschlussaktion keinerlei Information über möglichen Ziele ihrer Selbstfindungsreise eingeholt hatte, sollte sie sich am Besten auch weiterhin an diese gewählte Taktik halten und das weitere Vorgehen der Spontanität und dem Zufall überlassen.
Entschlossen stand sie auf, hob ihre hastig gepackte Tasche und lief schnurstracks auf die riesige LED-Tafel, die alle abgehenden Flüge in den kommenden Stunden auflistete.
Ich nehme einfach der nächsten Flug, vollkommen egal wo dieser hingeht.
Solana/Eldonar -> Seto/SangoSan - Aspiration - Deck 14/9 - 0600“, war dort zu lesen.
Aspiration - die Hoffnung - klingt gut, lächelte Ninnah und sah auf ihre Uhr. Noch 18 Minuten. Sie sollte sich beeilen.
Den Weg zu finden war dank der reichen Beischilderung kein Problem, da legten ihr schon eher die langen Distanzen auf dem weitläufigen Raumhafen Steine in den Weg. Sie schaute sich nach einem geeigneten Transportmittel um, doch zu dieser frühen Stunde lagen scheinbar sogar die fleißigen Mulis noch friedlich im Bett und schlummerten. Also blieb ihr nicht nichts übrig als los zu sprinten und sich den Weg von einem Pfeil zum nächsten zu erarbeiten.
Knapp eine Viertelstunde später stand sie am richtigen Dock. Vollkommen abgehetzt lehnte sie sich an die Umzäunung und erlaubte sich einen Moment Verschnaufpause. Dann strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, zupfte die Kleidung zurecht und schritt in Richtung der Laderampe. Diese stand immer noch offen und ein Transpobot bugsierte auf seinen Ketten eine Ladung an Metallkisten in das Innere des Raumschiffes. Eine Person stand in unmittelbarer Nähe und beaufsichtigte den Ladevorgang.
Ninnah steuerte auf diese Person zu. Beim Näherkommen erkannte sie einen untersetzten muskulösen Mann mittleren Alters mit einer Halbglatze und mehreren unschönen Narben im Gesicht.
Als Ninnah sich auf eine respektvolle Entfernung von zwei Meter näherte, hielt sich an und deutete stillschweigend eine leichte Verbeugung an. (Um dem Problem von sprachlichen Barrieren zu begegnen, setzte sich diese Art des stillschweigenden Begrüßens in den meisten bekannten Welten durch. Auf diese Art wurde vom Gesprächsinitiator Friedfertigkeit symbolisiert und dem Gegenüber höflicher Weise die Wahl über die Art und dem Level der Intimität der Kommunikation überlassen.)
"Gruß! Wie kann ich helfen?", kam es schlicht zurück. Ein offenes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes und spiegelte sich in seinen Augen wieder. Es war einer dieser sympathischen und einnehmenden Menschen, bei denen man nicht anders konnte als ihn sofort ins Herz zu schließen.
"Hallo Kapitän. Ich suche eine Passage nach SangoSan und hörte, ihr Schiff ist auf dem Weg dorthin?"
Ein tiefes Lachen erschütterte die Umgebung, so dass sogar der Transpobot in seiner Arbeit anhielt, um verwirrt den metallenen Kopf zu drehen. "Danke für das Kompliment, doch ich bin nur der Navigator der Aspiration", seine Auge streiften liebevoll über den Rumpf des Vehikels. "Der Kapitän, befindet irgendwo im Schiff und weißt wahrscheinlich die anderen Passagiere ein. Moment, ich frage mal nach."
Er drückt einen Knopf auf dem Kommunikator auf seinem Handgelenk und sprach in sein Kehlkopfmikrofon. "Kapitän, wir haben hier noch einen Nachzügler, der mit nach Sango möchte."
Ein Moment verging. "Roger", sprach er erneut und legte auf. "Der Kapitän meinte, ich soll dich einfach rein schicken, Mädchen. Den offiziellen Empfang hast du leider verpasst.", er lachte erneut auf. "Geh einfach die Rampe hoch. Links nach dem Ladebereich befindet sich ein Schott. Dort einfach rein und immer gerade aus - du wirst erwartet."
"Danke", meinte Ninnah und machte einige Schritte auf die Rampe zu.
"Ach übrigens", rief ihr der Navigator hinterher.
Ninnah hielt an und drehte sich um.
"Ich heiße Garett, Garett Barton. Aber alle nennen mich Tweet. Und mit wem hatte ich die Ehre?", er lächelte immer noch.
"Ninnah, ist mein Name. Einfach Ninnah.", antwortete sie.
"Ach so, ich verstehe - in geheimer Mission und so", er zwinkerte. "Na dann, hallo Ninnah."
"Hallo Tweet", sie lächelte zurück und setzte ihren Weg fort.

Im Inneren der Aspiration war es kühl und dämmrig. Der Ladebereich war voller schwarzer und silberner Kisten in allen erdenklichen Größen. Im Vorbeigehen sah Ninnah sich einige der Beschriftungen an und erkannte die Logos vieler namhafter Hersteller von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Im hinteren Teil sah sie eine junge Frau, die unter Zuhilfenahme von Gurten und Netzen Kisten mit Ersatzteilen an ihrem Platz sicherte. Sie war zu beschäftigt um Ninnah zu bemerken und Ninnah mochte sie nicht stören. Ein Gelegenheit um sich vorzustellen würde sich mit Sicherheit im Laufe des Fluges ergeben.
Ninnah passierte das genannte Sicherheitsschott und betrat einen engen Schacht, der weiter in das Innere des Transporters führte. Reihen von LED-Lampen beleuchteten den Gang auf seiner ganzen Länge. Trotz dieser Anzahl an Leuchtquellen war die Ausleuchtung eher als Wegweiser, denn als geeignetes Umgebungslicht zum produktiven Arbeiten gedacht. Knapp ein Dutzend Meter später gabelte sich der Gang und stellte Ninnah vor eine weitere Entscheidung. Die ihr glücklicher Weise abgenommen wurde, als sie von links Stimmen hörte. Nach wenigen Metern weitete sich der Schacht und sie sah zwei Personen, beide Männer, die mitten im Gang in ein Gespräch vertieft waren. Als sie näher kam, blickte sich der größere von den beiden um und nickte.
"Hallo, Ninnah mein Name", grüßte Ninnah. "Sind sie der Kapitän?"
"Ja, Kapitän Kress. Sie möchten eine Passage nach SangoSan buchen?"
"Das hatte ich vor", antwortete Ninnah eine Spur arroganter als sie sich vorgenommen hatte. "Vorausgesetzt wir einigen uns über den Preis", fügte sie hastig hinzu. Sie hatte zwar keine Ahnung was ein angemessener Preis für diese Passage war, wollte jedoch vor ihrem Gegenüber auf keinen Fall unerfahren und naiv erscheinen.
Der Kapitän des Schiffes sah sie belustigt an. "Der Preis ist für all unsere Passagiere der gleiche und beträgt 1200 Credits."
1200 Credits? Das war deutlich mehr als Ninnah erwartet hatte. Auf ihrem Credstick befanden sich knapp 3000 Credits. Geld, welches ihre Eltern für sie gespart hatten und auf das sie bei Volljährigkeit Zugriff erhalten hatte. Das war ein Jahr her und bisher hatte sie das Geld nicht angerührt - bis zu diesem Zeitpunkt. 1200 Credits waren beinahe die Hälfte ihres Guthabens, doch sie wollte keinen Rückzieher machen. "Gut, abgemacht."
"Willkommen an Bord", der Kapitan nickte. "Die Bezahlung können wir nach dem Start abwickeln. Ich zeige Ihnen Ihre Kabine. Ach ja, dies ist übrigens Mr. Bree. Auch ein Passagier auf dem Weg in das Seto System."
Ninnah nickte dem Mann zu und sah sich ihn genauer an. Seine Haut war blass. Er war vom mittlerem Alter und von schmächtiger Statur in unauffälliger farbloser Bekleidung. Jemand, den man im Vorbeilaufen überhaupt nicht wahr nehmen würde. Das Gesicht des Mannes blickte mürrisch rein und seine leblosen Augen blickten gelangweilt zu ihr. Dies ist mit Sicherheit kein Symphathieträger - dachte sich Ninnah.
"Wir sehen uns nachher, Mr. Bree", verabschiedete sich der Kapitän und wies Ninnah die Richtung.
Der Kapitän war genau das Gegenteil von Mr. Bree. Er was groß, breitschultrig. Hatte schulterlanges dunkles Haar und ein markantes Gesicht. Sein Augen waren lebendig und scheinbar immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Seine ganze Art vermittelte den Eindruck er stehe über den Dingen und nichts könnte ihn erschüttern. Und mit seinem Spitzbart und den altmodischen Koteletten sah er gar nicht mal so unsexy aus - gestand sich Ninnah ein.
"So, da wären wir", sagte Kapitän Kress und zeigte auf eine Metalltür. "Hier Ihre ID-Card. Packen Sie in Ruhe aus und schauen sie sich auf dem Schiff um. Leider verspätet sich unser Flug um ca. eine Stunde, doch keine Angst, die Zeit werden wir auf der Reise wieder einholen. Um 1200EZR treffen wir uns im Gemeinschaftsraum. Dort gibt es Mittagessen und sie werden die anderen Passagiere und den Rest der Crew kennen lernen. Bis zum Abflug muss ich noch einige Dinger erledigen. Wir sehen uns später, Miss Ninnah." Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sich der Kapitän um und verschwand im Gang zur Laderampe.
Ninnah schob die ID-Card in die Lesevorrichtung rechts vom Schott und dieses schob sich mit einem leisen Summen beiseite. Sie trat ein und fing mit dem Auspacken ihres Koffers an.

Die Ereignisse der letzten Stunden hatten Ninnah so ermüdet, dass sie eingeschlafen war. Als die Stimme des Kapitäns im Lautsprecher über dem Eingangsschott ertönte, schreckte sie auf und saß einige Augenblicke verstört da.
"... problemlos. Wir befinden uns nun im Hyperraum und werden in diesem zirka sechs Tage verbleiben, bevor wir das Sonnensystem Seto und schließlich SangoSan erreichen. Ich wünsche ihnen einen angenehmen Flug und würde mich freuen Sie im Gemeinschaftsraum zu treffen. Einen angenehmen Flug, ihr Kapitän."
Als die Stimme von Kapitän Kress verstummte, war Ninnah geistig bereits vollkommen in der Gegenwart. Sie hatte einen abgedrehten Traum, in dem ihre Eltern und Kapitän Kress vorkamen. Auch Tweet]und Mr. Bree waren dort vertreten. Leider konnte sich Ninnah nicht mehr an die Einzelheiten der Handlung erinnern.
Sie stand auf und beschloss sich bis zum Mittagessen auf der Aspiration umzusehen. Sie war kein großer Kenner von Raumschiffen, daher hatte sie die Größe dieses Schiffs durchaus beeindruckt. Doch realistisch gesehen, sollte es sich hierbei eher um eines der kleineren Vertreter der Sternenfähren handeln. Sie versuchte sich an die Zeit in der Schule zu erinnern, als den Schülern im Rahmen einer Akquisekampagne der Weltraumbehörden allgemeine Grunddaten der Flugvehikel und die Grundlagen der Astrovigation - das Navigieren zwischen den Sternen - vermittelt wurden. Wenn sie sich richtig erinnerte, wurde dort auch mal erwähnt, dass der Rumpf eines Transporterschiffes typischerweise dreifach geteilt ist. Das hintere Dritte beinhaltet den Interplanetaren- und bei Vorhandensein den Sprungantrieb. Das zweite Drittel - üblicher Weise in den unteren Decks oder im Mittelteil des Rumpfes untergebracht - befand sich des Ladedeck. Und das restliche Drittel im vorderen Teil des Schiffes beheimatete das Cockpit, die Brücke, die Mannschafts- und Passagierkabinen und sonstigen Wohnbereichen. Soweit sie es einschätzen konnte, war auch die Aspiration ein Musterbeispiel dieser Dreiteilung.
Ninnah verließ ihre Kabine und nahm sich vor die Erkundung des Raumschiffes vom Heck her anzugehen. Also folgte sie dem Weg, den sie eine gute Stunde zuvor gegangen war zurück zur Laderampe. Entgegen ihrer Vermutung war das Schott zum Ladebereich nicht verschlossen. Es glitt beim Näherkommen zischend auf und gab die Sicht auf einen dämmrigen Ladehangar frei. Die LED-Beleuchtung stand auf Sparflamme und tauchte den Raum in schwachen geisterhaft grünen Schein. Kein Mensch hielt sich in diesem Bereich auf. Die Kisten stand genau so, wie es Ninnah beim betreten des Schiff vorgefunden hatte. Nur in einer Ecke des rückwärtigen Bereiches stapelten sich unterhalb eines Stegs neue mittelgroße Metallkisten. Diese stachen nicht nur durch das Fehlen von Beschriftungen hervor, sondern auch durch die olivfarbene glänzende Lackierung. Die spiegelnde Oberfläche reflektierte die Lichtpunkte von der Decke und den umliegenden Wänden und schien in der Summe dieser sonderbaren Effekte von innen heraus zu leuchten. Ansonsten beinhaltete der Hangar nicht viel von Interesse. Insgeheim hoffte Ninnah hier jemanden aus der Mannschaft anzutreffen - vielleicht das Mädchen von vorhin oder Tweet - um sich abseits des Menschenpulks, der im Gemeinschaftsraum unweigerlich anstehen würde, mit demjenigen unterhalten zu können. Sich quasi einen Verbündeten für die Reise in der nächsten Tage zu suchen. Ninnah war noch nie alleine unterwegs und schon gar nicht auf solchen Strecken und über solche Zeiträume. Sie merkte wie sich Heimweg langsam einen Weg an die Oberfläche bahnte. Plötzlich brach die Angst über sie her und trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. Dieses Gefühl traf sie so heftig und unvorbereitet, dass sie sich erstmal auf einen Stapel Kisten neben sich abstützen musste. Die Angst? Die Angst vom Alleinsein, dem Unbekannten, der Zukunft und all den sonstigen Gefahren, die ihr (noch) nicht in den Sinn kamen. Reiß dich zusammen, schimpfte sich selbst. Oder hat dein Vater Recht mit der Behauptung du wärst ein kleines Kind und würdest ohne ihn in der großen weiten Welt nicht klar kommen? Zum Glück hielten solche Gemütszustände bei Ninnah nie lange an. Schon einige Sekunden später hatte wieder die Vernunft ihr Denken übernommen und sie beschloss, dass es doch das Beste wäre, sich unter Menschen zu mischen. Und wo konnte man inmitten des endlosen, kalten Weltraumes Menschen finden? Genau, Ninnah machte sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum.

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